LUTHERS WIRKUNG – ZWISCHEN FREIHEIT UND KNECHTSCHAFT

Überlegungen zum Gedenkjahr

Mit einer neuen Übersetzung fing alles an – Martin Luthers reformatorische Berufsethik und die Wirklichkeit des Kapitalismus.

Von: Kurt E. Becker

Publikation: Info3, 29-8-2017

„Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ – Max Webers zu Recht berühmte Untersuchung schlägt den Bogen von der Reformation bis zu unserer heutigen Zeit und liefert ein mögliches Erklärungsmuster für die Entwicklung unserer so und nicht anders gewordenen Wirklichkeit: Luther und die Folgen.

Am Anfang dieser Wirklichkeits-Entwicklung stand vor 500 Jahren die Reformation und Luthers Übersetzung des Begriffs „Beruf“ – im tatsächlichen und im übertragenen Sinn. Luther führte „vocatio interna“ und „vocatio externa“ in einem Begriff zusammen. Aus der ursprünglichen „Berufung“ wurde „Beruf“, gleichbedeutend einer „Verinnerweltlichung“ menschlichen Tuns und Handelns, wie Max Weber dieses Phänomen genannt haben könnte, unter Beibehaltung freilich der mit einer „Berufung“ verbundenen Disziplin, Systematik und Ethik des Arbeitens, aber auch des eigentlichen Sinns jedweder Berufsausübung. Und der war schlicht und einfach „Gottesdienst“. Jeder Beruf und dessen Ausübung diente der höheren Ehre Gottes. Das mönchische Berufs-Ethos, im Mittelalter hinter Klostermauern beheimatet, wurde in die Welt freigesetzt. Diese Freisetzung war gleichbedeutend einer Freisetzung ungeheurer geistiger Kräfte, die sich nolens volens im „normalen“ Leben der Menschen entfalten konnten, „säkularisiert“ wurden – wirtschaftlich zunächst in den Zünften und später dann in der kapitalistisch wirtschaftenden, industrialisierten Produktion, Letztere dem Berufsbegriff seine moderne Bedeutung verleihend.

Aber Luthers Berufsethik beeinflusste auch die von ihm so prägnant charakterisierte Dichotomie von Freiheit und Knechtschaft des Menschen. Wie schreibt Luther in seinem Aufsatz „Von der Freiheit eines Christenmenschen“? „Eyn Christen mensch ist ein freyer herr über alle ding und niemandt unterthan. Eyn Cristen mensch ist eyn dienstpar knecht aller ding und yderman unterthan.“

Frei? Ja, aber. Knecht? Ja, aber. Dieses Spannungsfeld hatte Luther gesehen und damit bereits vor einem halben Jahrtausend eine essenzielle Frage formuliert, die uns bis auf den heutigen Tag beschäftigt. Gegenüber seinesgleichen und der Welt war der Mensch, Luther zufolge, frei. Gegenüber Gott jedoch allzeit Knecht, ein Diener Gottes. Was jedoch, wenn dieser Gott tot ist? Nicht zuletzt mit Friedrich Nietzsches Diagnose verlor die Knechtschaft ihre Metaphysik, wurde säkularisiert und in das menschliche Alltagsleben transformiert.

Weltumspannender Anspruch einer Heilslehre

Mit der Säkularisierung des Luther‘schen Berufsethos einher ging auch die Entgöttlichung des Kapitalismus, der, Weber zufolge, unser Leben prägte und prägt wie keine andere Kraft in der Menschheitsgeschichte zuvor, damit Luthers Initialimpuls freilich in von ihm nicht intendierter Art dynamisierend. Denn Luther war kein Freund des Kapitals. Im Gegenteil. Die Entwicklung des Kapitalismus trieben andere voran. Durchaus noch im Namen Gottes. Calvin zum Beispiel. Mehrung kapitalen Reichtums, Gewinnmaximierung, war gleichbedeutend der Mehrung der Ehre Gottes.

Dem „Geist des Kapitalismus“ im Verein mit der Industrialisierung als dessen äußerer Form immanent war und ist eine grenzenlose Dynamik des Sich-Ausbreiten-Müssens, des Wachstums. Ähnlich der christlichen Religion hat auch der Kapitalismus einen allein seligmachenden, einen globalen Anspruch. Im entgöttlichten Kapitalismus säkularisiert sich insofern auch der weltumspannende Anspruch einer wachstumsorientierten Heilslehre. Mit fatalen Folgen. Wie nämlich soll es auf einem begrenzten Planeten ein unbegrenztes Wachstum geben können?

An dieser Frage scheiden sich die Geister. Die ökonomischen von den ökologischen. In einer kapitalen Wirtschaftsordnung ohne Gott wurde der Einzelne zum Diener des Geldes, sich im Kapitalismus eine neue Hörigkeit schaffend, einsitzend quasi in einem ehernen Gehäuse, aus dem es kein Entrinnen gibt. Das Amalgam aus protestantischer Ethik und kapitalistischem Geist ist 500 Jahre nach der Reformation erfolgreicher denn je, weil alternativlos. So will uns zumindest die herrschende Rationalität der Ökonomie suggerieren.

Alternativloser Kapitalismus?

Alternativlos im Sinne unserer Kanzlerin? Wie steht es um die Alternativlosigkeit unserer kapitalistischen Sicht auf die Welt und die Dinge in ihr? Wir bemühen in diesem Zusammenhang gern die Werte des christlichen Abendlandes zur Konstruktion eines uns gemäßen Welt- und Menschenbildes. Aber wird mit dieser Konstruktion letztlich nicht ganz einfach nur dem Kapitalismus ein verharmlosendes Gewand verschafft, damit er uns nicht in seiner ganzen brutalen Eiseskälte begegnet? Sind die Werte unserer christlichen Welt nicht schon längst willfährige Vehikel des alles beherrschenden Kapitals zur gelegentlichen Beruhigung unterdrückter, geknechteter Seelen geworden? Nicht von ungefähr sprechen wir im Zusammenhang mit diesen Werten von „Sekundärtugenden“ wie Disziplin, Fleiß, Pünktlichkeit etc. – tauglich letztlich für jede menschelnde Organisationsform und für jedes politische und ökonomische System auf diesem Planeten, demokratisch verfasste genauso wie autokratisch regierte.

In einer Welt ohne Alternativen sind alle Fragen beantwortet. In unserer Welt aber überwiegen die Fragen, Antworten sind eher selten – und schon gar nicht verbindlich. Braucht es vielleicht 500 Jahre nach Luthers Reformation eine neue Reformation, eine, die ähnlich der Luthers die Fundamente unserer Gesellschaftsordnung hinterfragt? Auf der Suche nach einem neuen Gesellschaftsvertrag? Mutig, vorurteils- und vorbehaltlos?

Qualifizierung zum demokratischen Diskurs

Was wäre denn eine Reform anderes, als der erfolgreiche Versuch, etwas Vorhandenem eine neue Form zu geben, etwas Vorhandenes neu zu formen? Das freilich setzt – zumindest in einer demokratischen Gesellschaft – den Diskurs voraus. Es bedeutet aber auch, dass wir uns bewusst sind, dass Demokrat sein genau dies bedeutet – fähig, befähigt, kompetent sein für den Diskurs. Und diese Kompetenz ist nachhaltig nur über Bildung zu gewinnen. Und zwar in jenem traditionellen Verständnis des Begriffs, der nicht nur die Ausbildung zu einem Beruf und damit die Abrichtung des Menschen zu rein ökonomischen Zwecken meint. Denn Bildung in diesem übergreifenden, das Ganze in den Blick nehmenden Sinn des Wortes meint ja genau nicht zuletzt Qualifizierung zum demokratischen Diskurs, die Einübung demokratischer Verhaltensweisen, die „Ausbildung“ zum mündigen, weil aufgeklärten Bürger eines modernen, demokratisch verfassten Staatswesens. Und in einer Wirklichkeit wie der demokratischen, die sich Pluralität auf die Fahnen schreibt und in der absolute Werte als obsolet gelten, gehört der Streit nolens volens zur demokratischen Alltagskultur mit dazu, wenn wir nicht im Morast moralischer Bequemlichkeit oder aber in autokratischen Alternativlosigkeit versinken wollen.

Mit dieser diskursiven Behandlung letztlich aller relevanten Fragen unserer so und nicht anders gewordenen Wirklichkeit stehen wir durchaus in einer tief verwurzelten, der Demokratie immanenten Vorgehensweise – und das seit Sokrates. Denn es war den Athenern selbstverständlich, ihre politischen Angelegenheiten durch die öffentliche Rede und Gegenrede zu regeln. Nicht von ungefähr galt ihnen die Rhetorik als die höchste, die wahrhaft politische Kunst. Und Sokrates steht als erster Vertreter der abendländischen Politik und Geistesgeschichte für diese Kunst. Letztlich wollte Sokrates in der „polis“ alles immer auch der Politik und damit dem öffentlichen Diskurs zugänglich machen. Auch der Wittenberger Theologie-Professor stand in dieser Hinsicht durchaus in der Tradition eines Sokrates, wenn auch in einem anderen Kontext – dem der Wissenschaft nämlich. Luther hatte seine 1517 veröffentlichten 95 Thesen, einem akademischen Brauch folgend, auch als Aufforderung beziehungsweise Herausforderung zum Streitgespräch verstanden. Die Folgen sind bekannt.

Wenn denn die Kirchenreformation sehr stark auf die ökonomische Entwicklung zurückgewirkt hat, wie Max Weber zu Recht mutmaßt, so bedarf es heute einer diskursiven Gegenreformation, die unser am Geldwert geprägtes Sein einem übergeordneten humanitären Ordnungsrahmen einverleibt. Gelingt dies nämlich nicht, ist das kapitale Prinzip ökonomischer Gewinnmaximierung für alle Zeiten legitimiert – mit fatalen Folgen für die Existenz des Menschen auf unserem Planeten. ///

 

Dr. Kurt E. Becker arbeitet als Kommunikationsberater, ist u.a. Vorstandsmitglied des Karl König Instituts und Autor des Buches „Der Charisma-Faktor“.