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Grossbanken riskieren zu viel, weil sie immer noch auf Staatshilfe zählen können © Gilani
Marc Chesney / 15. Sep 2018 –
Der Bankrott vor 10 Jahren ist Symbol eines aus dem Ruder gelaufenen Finanzsystems. Grossbanken sind immer noch «too big to fail».
Red. Marc Chesney ist Professor der Finanzwissenschaften an der Universität Zürich. Er ist Autor des Buches «Vom Grossen Krieg zur permanenten Krise», Versus-Verlag 2014.
Gläubiger-Forderungen von rund 1200 Milliarden Dollar
Heute vor zehn Jahren, am 15. September 2008, wurde Lehman Brothers Holdings Inc. unter den Schutz von Chapter 11 des amerikanischen Konkursgesetzes gestellt. Das war der Anfang eines langen und komplexen Prozesses, begleitet von Gläubigerforderungen im Umfang von rund 1200 Milliarden Dollar. Noch im letzten Jahresbericht von Lehman Brothers finden sich Begriffe wie «Performance-Rekorde», «hervorragende Ergebnisse», «Talent-Management-Anstrengungen», «Exzellenz» und «Fokus auf Risiko-Management». 2007 brüstete sich die Bank damit, die «Nummer eins» im Algorithmus-Trading zu sein und 42 «best in class»-Auszeichnungen für Exzellenz im Global Custodian Prime Brokerage Survey 2007 erhalten zu haben. Die Bank brachte ihren Namen überdies bereits am Rande des Bankrotts noch mit Nachhaltigkeit und Verantwortung in Verbindung; als eines ihrer Ziele nannte sie etwa die Verringerung von Umweltauswirkungen ihrer Aktivitäten.
Analysten haben versagt
Retrospektiv erscheint dieser Jahresbericht als reine Propaganda. Doch die grossen Rating-Agenturen wie Moody’s, Standard & Poor’s und Fitch Ratings haben dies gestützt, indem sie Lehman Brothers noch wenige Tage vor dem Bankrott gute Bewertungen von mindestens A gegeben haben. Und Richard Fuld, der ehemalige CEO, hat zwischen 2000 und 2007 ungefähr eine halbe Milliarde Dollar erhalten; dies als Verantwortlicher einer Strategie, welche die Bank in den Bankrott geführt hat.
Analysten haben diesen Jahresbericht offensichtlich nicht mit kritischem Blick gelesen. Eigentlich hätten die Alarmglocken läuten müssen in Anbetracht der vielen dubiosen Geschäfte und der komplexen derivativen Produkte. Letztere wiesen eine völlig unverhältnismässige Höhe von 35’000 Milliarden Dollar auf. Das heisst, ihr Nominalwert entsprach 50-mal der Bilanzsumme und etwa 1500-mal dem Eigenkapital der Bank. Das Eigenkapital betrug gerade einmal 3,25 Prozent der Bilanzsumme. Für die Finanzanalysten aber scheint das nicht relevant gewesen zu sein. Sie haben die enormen Schulden und die gigantischen Derivategeschäfte nicht zum Thema gemacht. Sie haben sich wahrscheinlich auf die Netto-Exposures der Derivate fokussiert.