20-01-21 01:42:00,
Das Coronavirus war im Februar und März 2020 nicht nur für die Politik, sondern auch für die Wissenschaft Neuland. Epidemiologen entwickelten erste Prognosemodelle. Unter Virologen bestand aufgrund der geringen klinischen Bedeutung der meisten bisherigen Coronaviren vor der Krise kaum Interesse, sich mit dem „neuen Coronavirus“ zu befassen. Die Immunologen konnten nur wenig über die unterschiedlichen Reaktionen der Menschen auf das Coronavirus sagen. In den Spitälern gab es keine Intensivmediziner mit Erfahrung in der klinischen Behandlung von Covid-19-Patienten und noch keine Patienten, die an oder mit Corona verstorbenen waren, an denen Pathologen eine Autopsie hätten vornehmen können. Es gab Anfang März 2020 kaum gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse als Grundlagen für politische Entscheidungen.
Zudem eignen sich wissenschaftliche Erkenntnisse grundsätzlich nur bedingt als Grundlagen für politische Entscheidungen, denn Politik und Wissenschaft sind zwei Welten:
Der wissenschaftliche Fortschritt besteht darin, dass vorläufige Erkenntnisse durch neue Erkenntnisse falsifiziert werden. Was gestern gültig war, wird heute durch neueres Wissen abgelöst. Wissenschaftler wissen, dass das, was sie heute wissen, schon morgen durch eine neue Studie überholt werden kann. Wissenschaft wird — leicht spöttisch, aber nicht unzutreffend — auch als „der aktuelle Stand des Irrtums“ beschrieben.
Wenn ein Wissenschaftler seine Aussagen zu einem Thema ändert, kann es Ausdruck von neuen Erkenntnissen, also von Fortschritt sein. Ein Politiker hingegen kann nicht immer wieder sagen, er habe neue Erkenntnisse und deshalb seine Meinung geändert. Er würde das Vertrauen seiner Wähler verlieren und als Wendehals abgewählt werden. In der Politik geht es darum, heute Entscheidungen zu treffen, die sich in der Zukunft auswirken. Ob es gute Entscheidungen sind, wird man erst später an ihren Wirkungen beurteilen können.
Politik tut gut daran, sich auf wissenschaftliche Erkenntnisse zu stützen, unter der Bedingung, dass diese in der Wissenschaftswelt seit einiger Zeit weitgehend geteilt werden oder günstigenfalls sogar unbestritten sind. Wenn sich die Wissenschaft aber mit einem neuen Problem befasst, wie dem Coronavirus, gibt es zunächst kein breit abgestütztes Wissen. Innert weniger Wochen wurden weltweit unzählige Forschungsprojekte gestartet.
Die Hektik der Krise wirkte sich auf den Wissenschaftsbetrieb aus. Üblicherweise durchlaufen seröse wissenschaftliche Studien einen geregelten Begutachtungsprozess, bevor sie und ihre Resultate veröffentlicht werden. Das kann Monate dauern. Während der Krise publizierten weltweit Zehntausende Forscher wissenschaftliche Untersuchungen zum Coronavirus im Netz, ohne diesen Prozess durchlaufen zu haben. Allein schon die Zunahme der Schreibfehler in den Publikationen ist ein deutlicher Hinweis darauf,