15-01-21 12:03:00,
Zwei globale, aber gegensätzliche Entwicklungen laufen zurzeit nebeneinander her. Die eine folgt der Idee der Separation: Alles, was existiert, wird als getrennt voneinander betrachtet. Jeder kämpft für sich allein. Diese Entwicklung wird getrieben von kapitalistischen und technokratischen Macht- und Profitinteressen. Die sogenannte Coronakrise hat diese Entwicklung enorm verstärkt und ihre antidemokratischen, autoritären Züge deutlich ans Licht gebracht. Es droht eine Erosion rechtsstaatlicher Normen und ethischer Prinzipien.
Die andere Entwicklung ist dem entgegengerichtet. Sie ist getragen von dem Bewusstsein der Verbundenheit allen Seins in Freiheit. Sie speist sich aus gegenseitigem Austausch und aus Kooperation. Menschenrechte, Demokratie und das Lebensnetz der Natur sind für die Vertreter dieser Bewegung wichtiger als Güter und Geld. Gewaltfreiheit und liebevoller Respekt sind für sie die Werte, auf denen eine zukunftsfähige Gesellschaft aufgebaut werden kann. Diese Bewegung ohne Namen besteht schätzungsweise aus mehr als einer Million Gruppen (1). Trotzdem wird sie von der der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen; die Leitmedien berichten nicht über sie.
Welche dieser Entwicklungen wird sich durchsetzen? Welche wird unsere Zukunft bestimmen?
Für den US-amerikanischen Soziologen und Mitbegründer der Weltsystemtheorie Immanuel Wallerstein (1930 bis 2019) ist der Kapitalismus nach den 500 Jahren seines Bestehens jetzt in die Endphase eingetreten. Das System, so Wallerstein, steht vor einer Bifurkation, vor einer Verzweigung, die in zwei gegensätzliche Richtungen verlaufen kann.
Alternative A wäre eine Richtung, in der die schon jetzt Privilegierten ihre Privilegien weiter ausbauen können. „Das wäre ein System, welches hierarchisch, ausbeuterisch und polarisierend ist. (…) Alternative B ist das genaue Gegenteil. Es wäre ein System, das verhältnismäßig demokratisch und verhältnismäßig egalitär ist. Ein System, das die Welt bisher noch nicht gesehen hat.“ Welche Alternative sich durchsetzen wird, so Wallerstein, „ist das Ergebnis von unendlich vielen einzelnen Entscheidungen, getroffen von unendlich vielen Personen in einer Unendlichkeit von Momenten. Und es ist unmöglich, darüber eine Vorhersage zu treffen“ (2).
Folgt man Wallerstein, dann trägt jeder von uns eine enorme Verantwortung und eine fast übermenschliche Last auf seinen Schultern. „Wer weiß, vielleicht bin ich ja gerade das Zünglein an der Waage, das die Entwicklung in die eine oder andere Richtung kippen lässt!“ Unter diesem moralischen Druck lässt sich kaum leben und frei atmen.
Allerdings ist die Perspektive der Systemtheorie nicht die einzig gültige Sichtweise auf die aktuelle Lage. Es gibt noch eine andere Perspektive, die uns nicht unter Druck setzt.